Gegenwärtige Reformansätze im Judentum
Die Frage nach der Bedeutung des Sabbats wird im aktuellen Zusammenhang klarer. Wie auch im christlichen gibt es im jüdischen Bereich die Auseinandersetzung mit einem schleichenden Säkularismus, der in „westlichen” Gesellschaften nach geläufiger Meinung immer mehr zu einer Zurückdrängung des Religiösen und zu einem Verlust von Mitgliedern führt. (Interessant ist, dass die Säkularisation erstaunlicher Weise, wie oben ausgeführt, nicht zu einer Hinwendung zu einem rein naturalistischen Denken sondern zu einem neuen Glauben führt, der den religiösen ersetzt.)
Um dieser zu entgehen, gibt es dort in neuer Zeit Strömungen, die zu einer Veränderung der religiösen Haltung aufrufen. Es gibt eine Richtung, die vor allem am Shalom Hartman Institute of North America lokalisiert ist. Dort wird in Analogie zu den offenen Gesellschaften in Demokratien für einen pluralistischen Ansatz des Judentums geworben. Dieses Ziel verfolgt auch das TABS Projekt (Torah and Biblical Scholarship), bei dem neue biblische Ansätze einer breiten jüdischen Gemeinschaft vorgestellt werden. Eine andere Richtung, die eher den Zusammenhalt der Gläubigen favorisiert, ist vorwiegend im United Kingdom und in Israel beheimatet. Dazu gehören Jonathan Sacks (1947 - 2020), der in Britannien und im Commonwealth über lange Zeit der Chef Rabbiner war und Micah Goodman (geb.1963), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Shalom Hartman Institute in Jerusalem. Beide haben in vielen Publikationen großen Einfluss auf das jüdische Denken der Gegenwart. Der in diesem Artikel verfolgte Gedankengang geht vorwiegend auf diese beiden Gelehrten zurück. Bemerkenswert ist, dass diese nicht nur einseitig die Säkularisierung kritisieren, sondern auch den Blick nach innen richten und Veränderungen anmahnen. Ins Visier gerät dabei u.a. der Fanatismus von einem Teil der Gläubigen, die dort geforderte Unterordnung von Frauen, die Ablehnung von „diversen” Lebenseinstellungen und nicht zuletzt - die Gebote (des Halacha) für den Sabbat. Diese sind - und damit sind wir beim Thema - so vielfältig, dass eine konsequente Einhaltung nicht möglich ist. Mancher Gläubige fühlt sich damit schuldig und gedemütigt. Es wird daher für den Sabbat gefordert, diese einzuschränken, damit der Jude, die Jüdin von vielen Zwängen befreit, sich mehr dem Geist dieses Tages öffnen kann.
Wenn man über den Sabbat nachdenkt, denkt manch einer auch an den christlichen Sonntag. In diesem Zusammenhang sei die Frage gestattet, ob man nicht vielleicht auch im christlichen Bereich durch die Übernahme eines undifferenzierten Freiheitsbegriffs die egozentrischen Tendenzen des Mainstreams toleriert? Martin Luther hat zumindest in seiner Schrift “Von der Freiheit eines Christenmenschen” fundiert dagegengehalten.
Publikationen für Interessierte:
Aufsätze:
Guy Stroumsa, „Open society, closed religion”, in: Sources, a Journal of Jewish Ideas, Spring 2021
- Adam S. Ferziger, „Fluidity and Bifurcation: Critical Biblical Scholarship and Orhodox Judaism in Israel and Northamerica” in: Modern Judaism, a Journal of Jewish Ideas and Experience, 2018,
- Jehuda Kurtzer, „What happened to Jewish Pluralismus? in: Sources, a Journal of Jewish Ideas, Spring 2021
- Bernhard Pörksen, „Der Kult der Kurzfristigkeit” in: Süddeutsche Zeitung vom 4.08.2021
Bücher:
- Jonathan Sacks, „Morality, Restoring the Common Good in Divided Times, London, 2020
- Micah Goodman, „The wondering Jew”, New Haven, London, 2020. - Charles Taylor, „Ein säkulares Zeitalter” 2001
Vortrag im Internet
- MIcah Goodman, „Religion is the Problem, Religion is the Solution”